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Abgebildet ist eine Frau mit dunklen Haaren und braunen Augen. Sie trägt eine schwarze Bluse, ein goldenes Medaillon und ein Paar Ohrringe, die dem Muster einer Motte ähneln. Links von ihr liegt ein Strauß weißer Lilien. Vor ihr liegt ein Schachbrett.

Tomie: Die Horrorgeschichte von Mädchenmanga

Shōjo Manga sind eine Gattung von japanischen Zeichentrickbüchern, die sich an eine weibliche Zielgruppe richten. Das Wort leitet sich von dem japanischen Wort für Mädchen “Shoujo” ab und hat ihren Ursprung in der ersten Ausgabe des Magazins “Mädchenwelt”, die im Jahr 1902 erschien (1). Heute wird der Begriff als Genretitel benutzt. Manche Leute denken, dass alle Mädchenmanga zwischen romantischer Komödie oder Melodrama liegen, aber in Wirklichkeit hat Shōjo über die Jahre diverse Geschichten auf die Welt gebracht. Das Einzige, dass ein Manga braucht, um als Shōjo zu gelten, ist, von einem japanischen Mädchenmagazin rausgebracht zu werden (1). Das Genre ist sehr flexibel, da es sich den Trends der Zeit anpasst und wie bei jeder zeitgenössischen Kunst müssen wir auf die ländliche Kriegsgeschichte zurückblicken, um sie zu verstehen:

Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren sehr prägend für die japanische Popkultur. Während Deutschland nach der Besatzungszeit demilitarisiert und von verschiedenen Parteien rekonstruiert wurde, hat man Japan entmilitarisiert in die Obhut von Amerika gegeben (2), die damals selbst eine profitable Popkultur am Laufen hatten. Diese enge Zusammenarbeit führte dazu, dass Traditionen untereinander geteilt wurden. So wurden westliche Feiertage, wie zum Beispiel Halloween, erfolgreich in Japan eingeführt. Aber es öffnete nicht nur die Tür für den kulturellen Austausch zwischen Amerika und Japan, sondern auch für popkulturelle Exporte (3). Unter anderem auch Filme. Mehrere amerikanische Horrorstreifen waren große Erfolge bei dem japanischen Publikum. Allerdings hat Japan während dieser Zeit auch ihre eigenen Filmikonen geschaffen. Mit dem Mädchen aus dem Brunnen Sadako Yamamura (The Ring) und dem Fluch von Kayako Saeki (The Grudge) hatte die japanische Horrorbranche zwischen den siebziger Jahren und frühen Zweitausendern ihren Platz in der globalen Popkultur gewonnen. Von diesem Trend wollten nicht nur Filmemacher*innen profitieren, sondern auch Schriftsteller*innen. So haben verschiedene Magazine angefangen, ihren Fokus auf Horror zu legen.

Das erste dieser Magazine war “Monthly Halloween”, das schaurige Geschichten für junge Mädchen druckte (4). Es adaptierte viele amerikanische Horrorfilme in den Mangastil (5), aber veröffentlichte auch neue Geschichten. Sein erfolgreichster Shōjo war “Tomie” (6), illustriert von der Horrorikone Junji Itō. “Tomie” dreht sich um die gleichnamige, unsterbliche Protagonistin, die zu der tödlichen Obsession vieler Figuren wird. Tomie wird oft als verhängnisvolle Frau dargestellt, auch bekannt als die Rolle der “Femme Fatale” (7). Die “verhängnisvolle Frau” ist ein Begriff, der von der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts geprägt wurde und eine verführerische, mysteriöse Frau beschreibt, die Männer in den Ruin treibt. Man sieht den Anfang dieser Rolle in den antiken Mythen der Sirenen, aber an Popularität gewann sie erst in den Crime-Thrillern des 20. Jahrhunderts mit dem Stereotype der hypersexuellen Spione. Beispiele solcher Figuren währen Black Widow von dem MCU und Sévérine von James Bond. Die Rolle der “verhängnisvollen Frau” wird oft kritisch gesehen, da sie Frauen auf ihre Sexualität reduziert.

In der Tat spielt Tomie oft eine Schlüsselrolle in dem mentalen Verfall ihrer Verehrer*innen, vor allem in den späteren Kapiteln. Aber am Anfang des Mangas ist Tomie nicht diejenige, die ihre Verehrer*in in das Grauen zieht. In der ersten Ausgabe ist Tomie ein Schulmädchen, das ein unangebrachtes Verhältnis zu ihrem Lehrer pflegt. Diese “Beziehung” führt auf einem Klassenausflug zu ihrem Tod. Um jegliche Verantwortung zu vermeiden, zerhackt ihr Lehrer ihren Körper in kleine Stücke und befiehlt seinen Schüler*innen die Leichenteile zu entsorgen. Ihre beste Freundin verweigert es zuerst, aber wird schließlich dazu gedrängt, ihr Herz im Meer zu entsorgen. Am Morgen danach taucht Tomie jedoch wieder in der Schule auf, woraufhin die ganze Klasse in Panik gerät. Tomie scheint sich nicht daran zu erinnern, was an dem Tag zuvor geschah, und versteht daher nicht, warum sie alle auf einmal anders behandeln. Trotz ihrer Amnesie treibt ihr Tod oder eher ihre Auferstehung ihre Mitschüler*innen in den Wahnsinn.

Die Paranoia der Schüler*innen wird noch schlimmer, nachdem sie herausfinden, dass ihr Lehrer darüber nachdenkt, zur Polizei zu gehen, um sich von der ganzen Sache reinzuwaschen. Sie umzingeln ihn und drohen ihm mit dem Tod. Doch die Konfrontation wird von Tomie unterbrochen. Sie scheint völlig uninteressiert an dem Streit zu sein und ist anscheinend nur da, um ihren persönlichen Konflikt mit einem der Schüler zu klären. Tomies Lässigkeit macht allen noch mehr Angst, was sie zu drastischen Taten treibt. Mehrere Schüler bringen sich um. Die überlebende Hälfte der Klasse wechselt die Schule, in der Hoffnung der Situation zu entkommen. Inklusive der Figur der besten Freundin, die sich auf der Fahrt zu ihrem neuen Heim fragt, ob Tomies Mord vielleicht nur eine Massenhalluzination war. Die Geschichte endet damit, dass Tomies Herz am Strand angespült wird und beginnt, den restlichen Körper zu regenerieren.

Tomie erfüllt in der Geschichte nicht die Funktion der “verhängnisvollen Frau”, sondern spielt die Rolle des Opfers, als auch die des Titelmonsters. Trotzdem ist ihre Figur in der Handlung eher passiv. Sie verführt keinen, noch tötet sie jemanden. Ganz im Gegenteil, sie ist diejenige, an der die meiste Gewalt ausgeübt wird. Nicht nur wurde sie das Opfer ihres pädophilen Lehrers, sondern sie wurde auch fahrlässig ermordet – eine Tat, an der ihre ganze Klasse mitbeteiligt war. Aber interessanterweise haben ihre Mitschüler*innen mehr Angst vor dem Überleben des Opfers als vor der Gewalt, die ihr angetan wurde.

Das ist ein Narrativ, mit dem sich viele Leser*innen identifizieren können. Im Falle einer Gewalttat wird Opfern, vor allem Frauen, häufig geraten, die Schuld bei sich selbst zu finden. Somit werden die, oft männlichen (8), Täter von aller Verantwortung befreit, in dem sie das Opfer zu einem Sündenbock machen. Das führt zu einem System, das Frauen keinen Schutz bieten kann. Demnach können Geschichten, bei denen (weibliche) Figuren die Kontrolle über ihr Narrativ zurückgewinnen, sehr attraktiv für Betroffene sein, während es den Nichtbetroffenen aufzeigt, dass diese Probleme überhaupt existieren. So schreibt Hiromi Tsuchiya Dollase im Jahre 2010, dass in japanischen Geistergeschichten die Rache der weiblichen Gespenster als “Warnung vor der männerzentrierten Kultur” fungiert (9). Diese Sichtweise ist es, die Horror-Shōjo so interessant für viele Frauen macht.

Aber wie vorhin schon erwähnt, verändert sich die Figur von Tomie in den späteren Kapiteln des Mangas. Sie nimmt eine aktivere Rolle in dem Untergang ihrer Verehrer*innen ein und wird zu einer traditionelleren Version der “Femme Fatale”. Man könnte diese Veränderung als “Flanderization” bezeichnen. Ein Begriff, der das Phänomen beschreibt, bei dem eine Figur an Vielschichtigkeit verliert und auf eine Eigenschaft reduziert wird (10). Allerdings sehe ich Junji Itō als einen so kompetenten Künstler an, dass ich glaube, diese Charakteränderung war eine bewusste, künstlerische Entscheidung, um die Handlung voranzutreiben, da aktive Protagonist*innen für interessantere Geschichten sorgen.

Trotz allem Erfolg musste der Halloween-Trend irgendwann enden. Wegen der fallenden Popularität von Horrormanga endete “Monthly Halloween” 1995 (11) und die Geschichte von “Tomie” fand ihr Ende fünf Jahre danach (12). Allerdings spürt man ihre Relevanz bis heute. Auf TikTok gibt es alle paar Monate einen neuen Trend, der sämtliche “Tomie” Ikonografie verwendet (13). Was von Panel, Dialogen bis zu Fanart reicht. Die Figur ist so beliebt unter jungen Frauen, dass Junji Itō und Sanrio, bei ihrer Kollaboration im vergangenen August “Tomie” mit “Hello Kitty” verkuppelt haben (14). Das zeigt wieder mal, dass Trends, ähnlich wie Tomie selbst, nicht wirklich sterben. Sie kommen immer wieder.

Happy Halloween!

Quellen:

  1. Shojo Manga: The Ultimate Guide!  
  2. How the US and Japan Went From Enemies to Allies After WWII
  3. How Japan and America Influenced Each Other’s Art After WW II
  4. The Fascinating History Of Horror Manga 
  5. How American Horror was Translated for Shoujo Manga 
  6. Junji Ito’s Tomie: The Role of the Monster
  7. Femme Fatale – TV Tropes
  8. Gewalt im Geschlechterverhältnis
  9. “Shōjo” Spirits in Horror Manga
  10. Flanderization – TV Tropes
  11. Final Issue of the “Monthly Halloween” Magazine
  12. Final Issue of the Original “Tomie” Run
  13. Tomie Hashtag on TikTok
  14. Junji Ito and Sanrio paired up Hello Kitty with Tomie

Autor:in

  • Deena

    Auf JUMA22 will ich unsere Leserinnen informieren, unterhalten und dazu animieren, meine Lieblingsfilme zu schauen.

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