Max Caulfield ist eine Hobbyfotografin, die über den Herbst in ihre Heimatstadt zurückkehrt, um am Kurs ihres Idols teilzuhaben. Während der Pause folgt sie einem blauen Schmetterling in die Schultoilette, um ihn zu fotografieren. Versteckt hinter einer Wand, merkt sie, dass zwei weitere Leute ihr folgten. Eine davon ist ihre Kindheitsfreundin Chloe Price und der andere das reiche Vatersöhnchen der Stadt, Nathan Prescott. Die zwei fangen an miteinander zu diskutieren, bis Nathan die Situation eskalieren lässt, in dem er eine Waffe zieht. Chloe versucht im Eifer des Gefechts ihn wegzuschubsen, doch genau das führt dazu, dass er den Abzug drückt. Max springt aus der Ecke und versucht nach Chloe zu greifen: “No!” Doch bevor ihr Körper auf den Boden trifft, wird die Zeit zurückgespult. Max wacht in dem Kurs auf, den sie an diesem Morgen besucht hatte und realisiert, dass sie die Zeit zurückdrehen kann.
Das ist “Life Is Strange”, ein Videospiel, das im Jahr 2015 veröffentlicht wurde. Alles was in der Handlung des Spiels passiert, läuft auf diese Szene zurück, in der Chloe hätte sterben sollen. Von da an wird Max verschiedene Entscheidungen treffen, um ihre geliebte Freundin vor dem Tod zu bewahren. Sie dreht die Zeit so oft zurück, dass sie anfängt, Raum und Zeit zu zerreißen. Sie realisiert die Folgen ihrer Taten, nachdem sie einen furchtbaren Sturm verursacht. Dieser bildet einen Tornado, der ihre Heimatsstadt zerstört. Das alles basiert auf den Schmetterlingseffekt, der besagt, dass jede noch so kleine Tat eine Kettenreaktion verursachen kann. Das Vorzeigebeispiel dafür ist, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings zu einem Tornado führen kann (1). Es ist kein Zufall, dass ein blauer Schmetterling Max zu dem Tatort führt oder dass Chloe, eine junge Frau mit blauen Haaren, der zentrale Punkt der Kettenreaktion ist. Es ist alles Teil der Symbolik, die die Entwicklerinnen mit der Geschichte aufbauen wollten.
“Life is Strange” wird oft als ein interaktiver Film beschrieben, da es lange Zwischensequenzen mit minimalem Gameplay außerhalb der Entscheidungen beinhaltet, die Spielerinnen treffen müssen. Das ist allerdings kein Konzept, das die “Life is Strange” Entwicklerinnen eigenhändig erschaffen haben. Das Projekt, auf das diese Art von Spiel am meisten zurückverfolgt wird, ist “Heavy Rain”. Ein Spiel aus dem Jahr 2010, in dem man verschiedene Figuren in einem Krimi spielt, mit dem Ziel, einen Serienmörder zu fassen. Der Videospieldesigner David Cage entwickelte nach dem finanziellen Erfolg von “Heavy Rain” weitere Videospiele in diesem Stil, unter anderem “Beyond Two Souls” und “Detroit: Become Human”. Trotz seiner Erfindung des Choice Based Game Genre werden seine Spiele oft für ihre flachen Handlungen, einseitigen Figuren und irrsinnigen Wendungen der Geschichten kritisiert. Auch dass er seine Mitarbeiterinnen in der Vergangenheit für seine sexuellen Fantasien missbraucht hat (2) und eine sehr hasserfüllte Arbeitsatmosphäre aufgebaut hat (3), führt dazu, dass sein Ruf in den letzten Jahren immer schlechter wurde.
Trotz allem war “Heavy Rain” eine große Inspiration (4) für die Entwicklerinnen hinter dem Spiel des Jahres 2012: “The Walking Dead” (5). Die Handlung ist unterteilt in Staffeln und Episoden, ähnlich wie es bei einer TV-Serie der Fall ist. Die Geschichte folgt Lee Everett, einem Professor, der zu Beginn der Zombie-Apokalypse ein Waisenkind, Clementine, aufnimmt, um sie vor den Untoten zu beschützen. Zusammen versucht das dynamische Duo die aufkommenden Hungersnöte, zwischenmenschlichen Konflikte ihrer Gruppe und das Ende der Welt zu überleben. Zwischen den beiden entwickelt sich eine liebevolle Freundschaft. Die zweite Staffel kam nicht mal ein Jahr später raus und folgt Clementine, der neuen zentralen Protagonistin.
In der zweiten Episode “A House Divided” findet Clementine eine CD, auf der ein Schmetterling abgebildet ist. Am Anfang der darauffolgenden Episode “In Harm’s Way” findet sie einen richtigen Schmetterling im Wald. Das ist wahrscheinlich eine Anspielung auf den zuvor beschriebenen Schmetterlingseffekt. Die Ironie hier ist, dass die meisten Entscheidungen, die getroffen werden, komplett irrelevant sind. Demnach findet der Schmetterlingseffekt gar nicht statt. Hier und da kann sich vielleicht ein Dialog verändern, aber das einzige Mal, wo Clementine mit den Konsequenzen ihrer Taten konfrontiert wird, ist in der letzten Episode der zweiten Staffel, bei der vorletzten Entscheidung. Damit die einzelnen Entscheidungen einen großen Einfluss auf die Handlung haben können, müsste man verschiedene Versionen des gleichen Videospiels entwickeln, was sehr viel Zeit und Geld bräuchte. Es ist einfacher (und günstiger) den Schmetterlingseffekt bloß vorzutäuschen. Das nennt sich “The Illusion of Choice”, zu Deutsch “Die Illusion einer Wahl” (6).
Die Entwicklerinnen hinter der zweiten Staffel von “The Walking Dead” hatten ursprünglich viele verschiedene Ideen für eine Fortsetzung, die eine formbare Handlung hat und von den Entscheidungen der Spielerinnen beeinflusst werden kann (7). Allerdings wollte das Unternehmen “Telltale Games” so schnell wie möglich den Erfolg des ersten “The Walking Dead” Spiels kapitalisieren, weswegen sie ihre Schriftstellerinnen, Editorinnen als auch ihre Entwicklerinnen unter extremen Zeitdruck gestellt haben. Das führte zu einem Videospiel mit minimalen Spielmechaniken.
Um ein positiveres Beispiel aufzugreifen: “Until Dawn” − ein Horrorspiel, das 2015 veröffentlicht wurde, dreht sich um eine Gruppe dummer Jugendlicher, die in den stürmischen Bergen von jemandem (oder von etwas) gejagt werden. Jede einzelne Figur kann durch eine Entscheidung der Spielerin entweder sterben oder die Nacht komplett überleben. Darüber hinaus beeinflusst man auch die Persönlichkeiten, Beziehungen der Figuren und somit auch den Ablauf von verschiedenen Szenen. Nach dem Prolog macht sich die Figur Sam auf den Weg zu dem Winter-Ferienhaus ihres Kumpels. Da trifft sie auf ihren alten Freund Chris, der ihr durch eine persönliche Anekdote den Schmetterlingseffekt erklärt. Dabei gibt es weit mehr als eine einzige Erwähnung des Konzeptes, da das Menü mit vielen blauen Schmetterlingen designt wurde.
All die genannten Videospiele waren riesige Erfolge für die Unternehmen, die sie veröffentlichten. Aufgrund ihrer “filmartigen” Qualität sprachen sie eine größere Zielgruppe an als nur die “typischen” Gamer, was zu ihrem großen Erfolg beitrug. Durch den mangelnden Gameplay sind die genannten Videospiele perfekt für Neulinge, die sonst keine anderen Erfahrungen mit dem Medium haben. Deswegen werden viele der genannten Videospiele bis heute fortgesetzt oder neu aufgelegt. Zurzeit wird eine Verfilmung des “Until Dawn”-Spiels produziert (8), Clementine aus “The Walking Dead” hat ihren eigenen Comic bekommen (9) und Max Caulfields Geschichte in “Life is Strange: Double Exposure” wird weitererzählt (10). In dem Trailer von “Double Exposure” sieht man wieder Max mit dem ikonischen, blauen Schmetterling, der sie zum Desaster führt.
Quellen:
- Der ‘Schmetterlingseffekt’ oder die eingeschränkte Voraussehbarkeit des sozialen Handelns
- Elliot Page explored legal action against Sony after nude video-game images leaked online
- Quantic Dream wins appeal tossing out lawsuit alleging toxic workplace
- Exclusive First Look At Telltale’s Jurassic Park
- Video Game Awards Winners Announced
- The Illusion of Choice – How Games Balance Freedom and Scope
- Telltales Inspiration
- Until Dawn Film Adaptation Is in the Works With Shazam!, Lights Out Director David F. Sandberg
- Clementine Comics
- Life is Strange: Double Exposure
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