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Wir müssen über Chantal reden.

In 2009 haben Prof. Dr. Astrid Kaiser und ihre Mitarbeiterin Julia Kube von der Universität Oldenburg eine Studie organisiert, in der 2000 Grundschullehrkräfte ein Fragenbogen zugeschickt wurde mit der Aufforderung, verschiedene Vornamen zu bewerten. Dieser Studie kann man entnehmen, dass Lehrkräfte gewissen Schüler*innen gegenüber aufgrund ihres Namens voreingenommen sein könnten. Denn Namen wie “Thomas” wurden eher positive Attribute zugeordnet, während andere wie “Kevin” negativ eingeordnet wurden (1). Dieses Phänomen nennt man auch “Kevinismus”. Ein Begriff, der ursprünglich in einem Satire-Wiki entwickelt wurde, um sich über Eltern lustig zu machen, die ihren Kindern keine “normalen” Namen geben (2). Doch in den letzten Jahren wurde der Begriff von der akademischen Szene benutzt, um ein gesellschaftliches Problem zu beschreiben. Bestimmte Namen werden mit gewissen Menschengruppen assoziiert, woraus Vorurteile gezogen werden. Ein weiterer Name, der in die gleiche Schublade gesteckt wurde wie Kevin, war zum Beispiel Chantal. 

Nun, alle die in den 2000ern geboren wurden, haben sich bei dem Namen ins Fäustchen gelacht, denn er hat sie an das Meme erinnert, dass der „Fack ju Göhte“-Trailer 2013 in die Welt gesetzt hat: “Chantal! [Ja?] Heul leise.” 

Die Figur Chantal Ackermann spiegelt sehr gut wieder, welche Schülerin sich Lehrkräfte vorstellen, wenn sie an den Namen denken: Ein verhaltensauffälliges und leistungsschwaches Problemkind, dessen drogenabhängige Mutter sie vernachlässigt und dessen biologischer Vater keine Rolle mehr in ihrem Leben spielt. Ein “Assi” wie aus dem Bilderbuch. Das soll aber nicht als Kritik an dem Film zu verstehen sein, denn im Gegensatz zu manch anderen deutschen Medien, geht es weniger um die Bloßstellung mancher Stereotype — sondern darum, mit ihnen zu spielen und dadurch ein Bewusstsein zu schaffen. Denn ihr Lehrer, der Protagonist namens Zeki Müller, gibt Chantal nicht auf, sondern entwickelt einen Plan, um sie zu motivieren, sich in der Schule anzustrengen. Ein starker Kontrast zum restlichen Lehrerzimmer, das über sie und ihre Klasse ablästert. Doch am Ende wird Zeki rechtgegeben, weil sich Chantal stark verbessert. Im dritten Film der Reihe schafft sie sogar ihr Abi. Eine Darstellung der Verantwortung von Lehrkräften und wie stark diese das Leben von ihren Schüler*innen beeinflussen können.

Zeki Müller und die Co-Protagonistin Lesi Schnabelstedt durchlaufen während der Handlung eine Charakterentwicklung (auch bekannt unter dem Begriff der Heldenreise), bei der sie unter anderem ihre Lehrmethoden hinterfragen. Am Ende des Films haben sie einen Mittelweg gefunden: Er fährt den „Assi-Modus“ herunter, während sie die Schüler*innen nicht mehr auf sich herumtrampeln lässt. Aber der wichtigste Teil ist, dass beide Figuren ein ehrliches Interesse daran haben, die Schüler*innen zu unterstützen. Wie entscheidend das für einen Menschen sein kann, wird in einer Szene mit Zeki verdeutlicht: Er steht vor einer Vitrine mit Pokalen, die im Schulflur steht. In Gedanken fragt er sich, warum er nie so einen Preis gewonnen hat. Er habe zum ersten Mal das Gefühl, die Straße habe ihm seine Kindheit geraubt. Zeki erinnert sich an die Worte seiner ehemaligen Klassenlehrerin: „Jeder weiß, dass du die Klassenkasse gestohlen hast. Aus dir wird nie was werden. Und das war bestimmt nicht die letzte Pflegefamilie, die dich wieder loswerden will, Zeki Müller.“ Wir finden nie heraus ob er die Klassenkasse gestohlen hat. Da sich der Film jedoch mit den Vorurteilen der Lehrkräfte ihrer Schüler*innen gegenüber befasst, könnte man hineininterpretieren, dass er es nicht tat, er in ihren Augen aber das Problemkind war. Somit wurde er möglicherweise automatisch zum Sündenbock für alle Ärgernisse in der Klasse. Weder Schule noch Pflegefamilien kümmerten sich um ihn und als er aus dem System herauswuchs, geriet er auf die schiefe Bahn.

Ein ehemaliger Lehrer von mir war von „Fack ju Göhte“ begeistert, unter anderem lobte er die realistische Darstellung der Lehrkräfte zu Beginn des Films. Während seiner Laufbahn als Lehrer sei er einigen Kolleg*innen begegnet, denen ihre Schüler*innen egal waren, was seiner Meinung nach das größte Problem des Schulsystems bleibt. Aber meine persönliche Ansicht ist, dass den meisten Lehrerkräften oft die Hände gebunden sind.

Erschwerend kommt der geringe Handlungsspielraum hinzu. Sei es wegen des Lehrplans (3), dem man immer hinterherhängt oder der Gelder (4), die entweder fehlen oder falsch verteilt werden, was zu maroden Schulgebäuden führt (5). Letzteres greift tatsächlich auch das Set Design des Films auf. So sind die Flure der Schule mit Graffiti beschmiert und es fehlt an Bunsenbrennern für den Unterricht. Aber Lehrkräfte ringen auch mit einem veralteten Schulsystem, welches durch seine Struktur die Diskriminierung von benachteiligten Kindern fördert. Das Schulsystem wurde mit dem Ziel errichtet, jede*r in ihrer*seiner „Klasse“ zu behalten: Die Volksschulen (heute als Hauptschule bekannt) waren für die Kinder der Landwirt*innen und Industierarbeiter*innen. Die Realschulen für die Kinder der Verwaltungsangestellten oder des Militärs und das Gymnasium für die Kinder der „Oberschicht“ (spätere Politiker*innen oder andere einflussreiche Positionen) (6). Unser damaliges Klassensystem als Basis für unser heutiges Schulsystem zu benutzen, klingt nach einem Problem. Ist es auch. Das Beibehalten dieser Aufteilung führt auch heute noch zu mangelnder Gleichberechtigung (7). 

Zuerst dachte ich, dass diese Gliederung bis heute andauert, weil Deutschland unter anderem große Angst vor Veränderungen hätte. Allerdings wurde vor Kurzem, im Jahr 2021 um genau zu sein, eine Studie veröffentlicht, die aufweist, dass Kinder tatsächlich von den aufgeteilten Schulformen profitieren können. Besonders leistungsschwache Kinder verbessern sich in homogenen Klassenräumen, während leistungsstärkere Kinder bei heterogenen Gruppen dezent besser abschneiden (8). Diese Ergebnisse gehen komplett gegen die vorherigen akademischen Annahmen. Was dennoch bestehen bleibt, ist, dass bei gleichen Kompetenzen, Kinder aus bildungsfernen Familien seltener eine Empfehlung von Lehrkräften für das Gymnasium erhalten als Kinder aus bildungsnahen Familien (9). Demnach ist möglicherweise nicht das Aufteilen der Kinder das Problem, sondern dass wir es nach Vorurteilen statt nach Fähigkeiten tun. 

Allerdings sollte der soziale Aspekt der Kinder untereinander noch beachtet werden: Nämlich Ausgrenzung und Mobbing. Wie wir als Gesellschaft mit der Thematik der Aufteilung umgehen, führt je nachdem zu Egokomplexen, Verbitterung und Diskriminierung unter den Kindern aufgrund der Schulform, die sie besuchen. Leistungsschwächere Kinder sind nicht dumm, sie haben einfach nur andere Bedürfnisse. Ein Hinweis, der innerhalb dieser Diskussion immer wichtig ist, ist, dass unser Schulsystem aus vielen bewegenden Teilen besteht, die im vorherigen Abschnitt aus zeitlichen Gründen nicht berücksichtigt wurden. Bitte denkt daran, dass diese Thematik sehr komplex ist.

Apropos Variablen. Die Variable der Kindererziehung ist natürlich auch relevant. Etwas, das dem Film bewusst ist, da alle Schüler*innen der “Absturzklasse” entweder gewalttätige oder abwesende Eltern haben. Wie diese zwei Variablen verbunden sind, wurde im dritten Film der Reihe von Chantal treffend formuliert: „Ich wollte sagen, dass es auch ein bisschen ist wie Mobbing, wenn man schon so viele Jahre … so lange auf der Schule ist wie ich, ja? Und dann kriegt man auf einmal mit, dass keiner an einen glaubt von den Lehrern. Ja? Wenn schon zu Hause keiner an einen glaubt und in der Schule auch nicht… Irgendwie fühlt es sich manchmal an, als ob wer die Tür für die Zukunft zuhält, sodass man nicht durchkommt.” Kindern, die zuhause schon viele Probleme zu bewältigen haben, fällt es schwerer, zudem noch ihre Schulaufgaben zu erledigen. Zum Beispiel, weil sie sich um ihre Eltern kümmern müssen. So gibt es einen weiteren Moment aus dem dritten Teil: “Ich will nicht die sein mit der Crack Mutter”. In dieser Szene findet eine Lehrerin Drogen in Chantals Tasche, weswegen sich diese unter Tränen rechtfertigen muss. Sie klaut die Drogen ihrer Mutter, weil sie sich um sie sorgt und Angst vor ihrem gewalttätigen Verhalten im Drogenrausch hat.

Diese Szene, in der sich Chantal ein normales Leben mit ihrer Mutter wünscht, steht im starken Kontrast zu einer Montage aus dem ersten Film: Während eines Ausfluges schleift Zeki seine ganze Klasse durch ein Viertel, um Drogenabhängige, Prostituierte und Arbeitslose anzugaffen. Als wären sie in einem Zoo. Die Idee dahinter ist, die Schüler*innen von einem kriminellen Leben, welches sie sich erhoffen, abzuschrecken. Eine Szene, die so stilisiert wie menschenfeindlich ist. Es wirkt eher wie eine Darstellung von — im Gegensatz zu einem Spiel mit — Stereotypen. Etwas, dass bei deutschen Komödien zu erwarten ist, aber in diesem Fall trotzdem enttäuschend war.

Der Grat zwischen Kritik am System und dem Bedienen von Vorurteilen ist bei dieser Filmreihe sehr schmal. Auch wenn die Filme teilweise ikonisch sind und ich sie während meiner Jugend genossen habe, sehe ich die Reihe heutzutage kritischer. Unter anderem finde ich sie in vielen Teilen nicht länger unterhaltsam, sondern frustrierend, weil Figuren am Anfang jeden Films wieder von Null anfangen. Zum Beispiel der Protagonist, der immer wieder realisieren muss, dass er die Kids mag und keine kriminellen Aktivitäten mehr durchziehen will. In Hinsicht auf die rückwirkende Kontinuität wird der nächste Film der Reihe, “Chantal im Märchenland”, sicherlich nicht enttäuschen.

  1. Ungleiche Bildungschancen schon durch Vornamen? — Universität Oldenburg
  2. Was ist Kevinismus? – Uncyclopedia
  3. Lehrplan: Mehr Freiheit für den Unterricht! | ZEIT Arbeit
  4. Kommunen fehlen Milliarden für Schulen und Kitas | ZEIT ONLINE
  5. Marode Schulen in NRW: Kölner Eltern sind sauer | WDR Aktuelle Stunde
  6. Schulgeschichte bis 1945: Von Preußen bis zum Dritten Reich | bpb.de
  7. IQB – Bericht (hu-berlin.de)
  8. Verstärkt das gegliederte Schulsystem die Bildungsungerechtigkeit? (deutsches-schulportal.de)
  9. Fast jede 4. Schulform-Empfehlung ist falsch | News4teachers
Ein großes Dankeschön an unsere Fotografin Samantha, dem Model Adina, die Chantal verkörpert hat, und der Organisatorin Celine. Sie haben die Fotos für diesen Beitrag erschaffen.

Autor:in

  • Deena

    Auf JUMA22 will ich unsere Leserinnen informieren, unterhalten und dazu animieren, meine Lieblingsfilme zu schauen.

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