„Dotnod Entertainment“ ist ein französisches Entwicklerstudio, das durch das Videospiel „Life Is Strange“ bekannt wurde (1). An diesem Erfolg knüpften sie mit etlichen Fortsetzungen, sowie mit neuen Projekten an, die eine ähnliche Atmosphäre ausstrahlen sollten. So kam im Jahr 2020 das Spiel „Tell Me Why“ raus, welches seit seiner Veröffentlichung für verschiedene Auszeichnungen nominiert wurde und bei den Gaming Awards in der Kategorie „Games for Impact“ auch gewann (2). Ähnlich wie „Life Is Strange“ ist „Tell Me Why“ ein point-and-click Adventure und verfolgt eine Handlung, die in einzelnen Folgen aufgeteilt ist. Aber das Einzigartige an „Tell Me Why“ ist, wie es seine Geschichte erzählt und wie es die klassische Handlung des Thriller-Genre auf den Kopf stellt. Doch fangen wir von vorne an. Worum geht es denn überhaupt?
Spoilers Ahead.
„Tell Me Why“ folgt der Geschichte von Tyler und Alyson Ronan, eineiige Zwillinge, die in den Bergen von Alaska zusammen mit ihrer Mutter Mary-Ann aufgewachsen sind. Als kleine Kinder fingen sie an übernatürliche Kräfte zu entwickeln. Sie konnten ihre Gedanken und Erinnerungen miteinander telepathisch austauschen. Mit der Zeit fingen die Geschwister an immer mehr Geheimnisse zu hüten und schafften es durch ihre Fähigkeiten ihre Mutter von ihrer inneren Welt auszugrenzen. Obwohl sie nicht vollständig verstand, was mit Tyler und Alison vorging, bemerkte Mary-Ann, dass sie langsam den Draht zu ihren Kindern verlor. Erschwerend dazu kamen noch finanzielle Probleme, die es ihr unmöglich machten, ihre Kinder bei Laune zu halten. Zum Beispiel fragte Tyler sie wiederholt nach Erlaubnis bei dem Hockeyteam ihrer Stadt mitzumachen. Ein Wunsch, den Mary-Ann ihm nicht erfüllen konnte, weil ihr das Geld für die nötige Ausrüstung fehlte. Da sie von ihrer lokalen Community ohnehin schon aus diversen Gründen verurteilt wurde, wagte sie nicht nach Hilfe zu fragen. Von ihrer Gemeinschaft sowie von ihren Kindern allein gelassen verschlimmerte sich ihr mentaler Zustand.
All dies führt uns zu der Nacht, in der alles tödlich schief ging. In der Scheune neben ihrem Haus, erschreckte Tyler seine Mutter, während sie eine Schrotflinte lud. Daraufhin jagte sie ihn mit der Waffe durch den Wald, bis sie ihn an einem See in die Enge trieb. Tyler brach in Tränen zusammen und flehte seine Mutter an ihm nicht weh zu tun. Doch plötzlich schrie Mary-Ann vor Schmerzen auf – sie drehte sich langsam um und enthüllte Tyler die Küchenschere, die aus ihrem Rücken ragte, sowie die kleine Alyson, die hinter ihr stand. Daraufhin sahen die Zwillinge zu wie ihre verwundete Mutter in den See stolperte, wo sie schlussendlich ertrank. Wenig später traf die Polizei ein und Tyler nahm sämtliche Verantwortung auf sich, um seine Schwester vor den Folgen ihrer Tat zu schützen. In seinen Augen hatte sie ihn gerettet.
So wurden die Zwillinge getrennt. Alyson wuchs in der Obhut des Polizeichefs ihrer Kleinstadt auf, während Tyler im „Fireweed“ Wohnzentrum seine Strafe absaß. In den Monaten seiner Entlassung wurde ihm begrenzter Freiraum gewehrt. Doch er entschied sich dagegen während dieses Zeitraums seine Schwester wiederzusehen, da er sich noch in einer Selbstfindungsphase befand. Erst Jahre später als Tyler entlassen wurde, sahen sie sich wieder. Trotz der verlorenen Zeit empfing Alyson ihn mit offenen Armen. Das vereinte Duo plante ihr altes Heim zu renovieren, um es für den höchstmöglichen Preis zu verkaufen und mit dem Geld endlich zusammen wegzuziehen. Doch als sie das alte Zimmer ihrer Mutter (die sie ausschließlich bei ihrem Vornamen nennen) durchsuchten, fanden sie ein auffälliges Buch: „Wie du dein transgeschlechtliches Kind erziehst“ von Nick Adams. Wichtiger Kontext hier ist, dass Tyler ein Transmann ist und seine Schwester ihm in der Albtraumnacht half seine Haare kurz zu schneiden. Das Buch wühlte die Zwillinge emotional auf, da sie vor einer langen Zeit ihren Frieden in dem Glauben fanden, dass Tylers Haarschnitt und sein Geschlechts-nonkonformes Verhalten zuvor die Ursachen für den Wutausbruch ihrer Mutter war. Durch die neuen Fragen, die das Buch aufwarf, kamen die Geschwister zu dem Entschluss, dass sie die Tote nicht ruhen lassen konnten und begannen in ihrer kleinen Heimatstadt herumzuschnüffeln, in der Hoffnung die Taten ihrer Mutter besser verstehen zu können.
Ähnlich wie in „Life Is Strange“ zuvor beinhaltet „Tell Me Why“ also eine Krimi-Storyline. Aber im Gegensatz zu „Life Is Strange“ (und ähnlichen Handlungen) gibt es in diesem Spiel keine vermisste Person zu finden und keinen Serienkiller zu fassen. Da die Hauptfiguren schon wissen, wer wo was gemacht hat, ist die einzige zentrale Frage, die verbleibt die, die schon in dem Titel des Spieles gefragt wird: Wieso? Während in einem traditionellen Thriller das Motiv meist nur als ein Indiz genutzt wird, um die Täterin zu ermitteln, ist es in „Tell Me Why“ der Kern der Geschichte.
Eine interessante Entscheidung der Entwicklerinnen, denn wenn man einen Thriller erlebt, wartet man ja darauf, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Aber wenn die einzige Frage, die man sich stellen kann, die nach den Beweggründen und dem inneren Gedankengang einer Person ist, erweist es sich als äußerst mühselig, die Wahrheit als solche zu erkennen. Das Spiel zeigt immer wieder, wie schwierig es sein kann, die Handlungen eines Menschen „korrekt“ zu interpretieren und die Dinge aus der Sicht einer anderen Person zu sehen. Zumal sich diese Sichtweise mit der Zeit ändern kann oder womöglich nicht-existent ist. Um Alyson, während der Ereignisse der zweiten Folge, zu zitieren: „Du wirst nie verstehen, was ihr durch den Kopf ging… Hat sie bestimmt nicht mal selbst“.
Trotz ihrer telepathischen Kräfte, haben auch die Ronan Geschwister oft Probleme, die Perspektiven voneinander zu verstehen. Ein Problem, das sich in ihren Superkräften widerspiegelt. So können Tyler und Alyson nämlich ihre geteilte Erinnerung in geistartigen Visionen manifestieren. Doch manchmal schaffen sie es nicht die gleiche Erinnerung zu manifestieren. Womöglich, weil sie durch ihre unterschiedlichen Lebenserfahrungen die gleiche Situation unterschiedlich gedeutet haben, was wiederum zu unterschiedlichen Erinnerungen führte.
Ein gutes Beispiel dafür zeigt sich bereits in der allerersten Folge: Als Alyson und Tyler beim Einkaufen an einen Streit zurückdachten, den ihre Mutter mit einer engen Familienfreundin hatte. Alyson bestand darauf, dass diese Freundin Mary-Ann nur einen Gefallen tat, um ihr diesen dann später vorzuhalten, während Tyler der Meinung war, dass Mary-Ann streitsüchtig und undankbar war. Letztendlich kann sich die Spielerin entscheiden, welcher Version der Geschichte sie Glauben schenkt. Doch eine objektiv richtige Antwort gibt es nicht. Das Spiel birgt also die Botschaft, das bestimmte Dinge, wie der Streit, faktisch nachgewissen werden können, aber andere Dinge reine Meinungssache sind. Das bedeutet, dass sich je nach Perspektive die “Wahrheit” verändern kann.
Dieses Phänomen hat auch eine wissenschaftliche Begründung. Denn im Gegensatz zu einer Kamera, gelingt es unseren Augen nicht, ein scharfes Allgemeinbild aufzunehmen, da es unser Verstand nur schafft, sich auf einzelne Details zu konzentrieren. Demnach ergänzt unser Gehirn den Rest des Bildes durch unsere Erfahrungen (3). Bei traumatischen (oder sehr stressigen) Situationen wird unsere ganze Aufmerksamkeit meist auf ein Detail gelenkt, weswegen es besonders in solchen Fällen schwierig ist, das Geschehene wiederzugeben (4).
Das führt uns zu dem Ende des Spiels. Alyson und Tyler sammelten genügend Beweise, um die These zu stützen, dass Mary-Ann extrem selbstmordgefährdet war. Was sie allerdings nicht wissen können, ist, ob ihre Mutter sich in dieser Nacht nur selbst erschießen oder die ganze Familie mit in den Tod ziehen wollte. Tyler realisiert in diesem Moment, dass sie die Wahrheit nie erfahren werden und wenn sie mit diesem Kapitel in ihrem Leben abschließen wollen, sich für eine Variante der Geschichte entscheiden müssen.
Dieses Ende spiegelt wider, wie sich solche Situationen im wahren Leben abspielen können. Sehr oft werden kalte Fälle noch aktiv verfolgt, in der Hoffnung des Rätsels Lösung zu finden. Aber für sehr viele Betroffene liegt der einzige Frieden, den sie finden werden, in den Schlusspunkten, die sie selbst setzen. In der Wirklichkeit gibt es kein perfektes Ende wie in fiktiven Geschichten, sondern nur Kapitel, die wir selbst schließen können (wenn wir bereit dafür sind). Das bedeutet, nicht die Opfer aus diesen Fällen zu vergessen, sondern nur, dass die Erinnerung an sie weniger wehtut. Oder um das Spiel ein letztes Mal noch zu zitieren: „Ich wollte nur sagen… naja, du hattest Recht wegen der Trauer. Dass sie sich im Kreis dreht. Heute Morgen war ich draußen auf der Veranda und starrte in den Nebel. Und meine Mutter […] stürzte einfach aus mir heraus. Aber es war in Ordnung. Es hat sich gut angefühlt, sich an sie zu erinnern.“
Die Aussagen, die das Spiel zu Themen wie Trauer und Subjektivität trifft, sind sehr vielschichtig. Doch die Geschichte hat noch so viel mehr zu sagen und noch viele interessante Figuren, die ich nicht besprechen konnte. Auch die visuellen Komponenten des Spieles sind unfassbar gut ausgebaut. Falls irgendetwas, das hier erwähnt wurde, interessant klingt, dann solltet ihr euch das Spiel im Juni auf Steam anschauen, da es während dieser Zeit des Jahres immer kostenlos erhältlich ist (5).
1. Games | Dotnod-Entertainment
3. Der Einfluss von Gedächtnisprozessen auf die visuelle Suche mit Blickbewegungen | Download
4. Wie falsche Erinnerungen in der Kindheit auftreten | Online Library
5. Tell Me Why ist zu Ehren des Pride Month den ganzen Juni über kostenlos erhältlich | Twitter
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Auf JUMA22 will ich unsere Leserinnen informieren, unterhalten und dazu animieren, meine Lieblingsfilme zu schauen.
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